„Komplex“, alles ist „komplex“. Natürlich ist alles „komplex“, wenn man es im Detail anschaut. Das ist aber nicht, was „Das ist komplex.“ oder „Das muss man differenziert sehen.“ bedeutet. „Das ist komplex.“, bedeutet: „Das ist so kompliziert, damit kannst Du sowieso nicht umgehen.“
„Auslandseinsätze“ der Bundeswehr sind zum Beispiel immer sehr komplex. Die Situation ist Afghanistan ist sicher sehr komplex, – und unübersichtlich, – das glaube ich sofort. Irgendwie können die Abgeordneten, die den Einsatz beschließen, das dennoch beurteilen. Noch mehr irgendwie kann man aber die Informationen, die die Abgeordneten gehabt haben müssen, und die für die Parlamentarier offenbar verstehbar waren, mir nicht zur Verfügung stellen. Ich kann das nicht verstehen, das ist einfach „zu komplex“, das können nur die Abgeordneten. Außerdem muss ich das differenziert sehen, während es für die Abgeordneten reicht, mit „Ja“ oder „Nein“ zu stimmen, meistens mit „Ja“.
Wir haben dort auch Erfolge erzielt, sehr „komplexe“ Erfolge, so „komplex“, dass ich sie nicht verstehen kann – die Politiker und die Journalisten aber schon.
Kommen dann die Flüchtlinge, dann muss ich sie willkommen heißen, schließlich hat Deutschland dort einen Krieg geführt. Ich will an der Stelle nicht sagen, dass Deutschland keine Flüchtlinge aufnehmen sollte, das ist eine andere Frage. Ich habe aber ein Problem mit der Begründung, Deutschland hätte dort Krieg geführt. Abgesehen davon, dass Deutschland mit dem Krieg in Syrien herzlich wenig zu tun hat: War das denn ein Krieg gewesen? Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich dachte immer, es sei ein „Auslandseinsatz“, den man allenfalls umgangssprachlich als Krieg bezeichnen konnte. Und auf einmal ist es Krieg?
War das nicht „komplex“ gewesen? Viel zu kompliziert, als dass ich es verstehen könnte? Aber jetzt bin ich dafür verantwortlich?
Haben wir nicht „internationale Verantwortung“ übernommen? Und jetzt sollen wir schuldig sein? Weil wir Verantwortung übernommen haben?
Waren die, die dagegen demonstriert haben, nicht Neurechte gewesen, die man bekämpfen musste? „Kampf gegen Neurechts“, oder wie das heißt? Waren die Befürchtungen, dass man Frieden nicht herbeibomben kann, damals nicht krude Verschwörungstheorien gewesen? Der Hinweis darauf, dass es in der Vergangenheit auch nicht gelungen ist, nicht der Beweis ihres ewiggestrigen Denkens?
Damals durfte ich nicht dagegen demonstrieren, weil es „komplex“ ist, aber heute soll ich dafür verantwortlich sein?
Damals konnte man es nicht einfach Sünde nennen, es war nicht Sünde, sondern „komplex“, und musste „differenziert“ beurteilt werden, also gar nicht beurteilt. „Richtet nicht, dass ihr nicht gerichtet werdet.“ Heute schreit die ganze Welt, warum die Kirche wegen des Sexuellen Missbrauchs von Kindern nichts unternommen hat. Ja, damals waren nicht alle einverstanden gewesen, aber die, die nicht einverstanden gewesen waren, haben nichts gesagt, nichts sagen dürfen, schließlich war es „komplex“. Und sie konnten nichts sagen, zumindest nicht veröffentlichen, weil es damals für die „ewig gestrigen“ Ideen damals „keinen Platz“ in den Medien gab, und das böse Internet für die Normalbürger noch nicht verfügbar war.
Als der Euro eingeführt wurde hieß es, es gäbe keine Schuldenunion, heute ist das „komplex“. Auch da wird nicht so recht klar, welche Informationen die Abgeordneten hatten, als sie die rund 200.000.000.000 Euro beschlossen haben. Informationen, die die Parlamentarier verstehen können, aber ich nicht. Außerdem ist das keine Schuldenunion, sondern ein Rettungsschirm. Der Unterschied zwischen beiden ist „komplex“, und muss „differenziert“ beurteilt werden. – Also gar nicht beurteilt.
Ich kann mir aber schon denken, wer einmal dafür verantwortlich sein wird, und dafür zu zahlen hat.
Ja, natürlich sind die internationalen Finanzströme „komplex“, die wirtschaftlichen Verflechtungen, die indirekten Konsequenzen, aber das ist doch keine Antwort auf die Frage, was aus dem Versprechen geworden ist, dass es keine Schulden-Union geben würde. Oder auf die Frage, wie diese „Schulden“ denn zurück gezahlt werden sollen.
Es gibt wenig sinnvolle Fortsetzungen für Sätze, die mit „Ich bin ja kein Nazi, aber…“ anfangen, und es gibt wenig sinnvolle Fortsetzungen für Aussagen, die mit „Das ist komplex.“ anfangen. Es ist völlig legitim zu sagen „Das ist komplex:“, mit einem Doppelpunkt am Ende, und eben verschiedene Aspekte zu erläutern. Es ist auch völlig legitim über ein differenzierte Beurteilung zu reden, aber meistens steht am Ende der Punkt: „Das muss man differenziert beurteilen.“ heißt meistens, dass es nicht in Ordnung ist, (sonst wäre es nicht „komplex“, sondern in Ordnung,) dass ich aber trotzdem nichts sagen darf, und mich nur nachher verantwortlich halten lassen muss.
Stand: 12.07.2016