Wenn man einen Missstand in einer Gemeinde anspricht, dann bekommt man oft gesagt, dass keine Gemeinde vollkommen sei. Das ist sicher wahr, und es ist auch nicht das Problem, dass es einen Missstand in der Gemeinde gibt. Das Problem ist in der Regel, dass sie daran festhält. Wenn ein Gemeindeglied dem Pastor auf eine Ermahnung erwidern würde, dass kein Christ vollkommen ist, dann wäre das auch wahr, aber der Pastor würde es trotzdem nicht akzeptieren. Manche Pastoren gehen sogar so weit zu sagen, dass eine Gemeinde in dem Moment nicht mehr vollkommen wäre, in dem sie den Bedenkenträger aufnimmt. Das ist natürlich ebenso wahr. Er würde es aber auch nicht akzeptieren, wenn das Gemeindeglied auf eine Ermahnung antwortet, dass er Alle aus der Gemeinde ausschließen müsste, einschließlich sich selber, wenn er eine reine Gemeinde wolle. Auch das ist wahr, aber es ist doch kein Grund, an einer Sünde festzuhalten, nur weil es die Anderen auch tun.
Die richtige Antwort wäre entweder: „Das ist keine Sünde, an der und der Bibelstelle ist das so geregelt, wie wir es machen.“ Oder: „Du hast recht, das ist ein Missstand, und du kannst folgendes tun, um ihn zu beseitigen …“ Ganz klar, der Pastor hat es nicht leicht. Oft bekommt er von seinen Schäfchen ähnliche Antworten. Oft hat er den Missstand ja erkannt, aber nichts dagegen unternommen, weil seine Gemeindeglieder nicht bereit sind, ihn abzustellen. Aber dann muss er ihn doch nicht rechtfertigen. Meine zumindest ich. Aber vielleicht wären sie dann nicht mehr lange Pastor.
Die Frage nach der Verantwortung ist schwierig, ja im Grunde nicht lösbar: In dem Sinn, dass die Leiter für ihre Schäflein verantwortlich sind; sie hätten unterweisen sollen. Die vielen Bibelschulen beweisen doch, dass Christen in ihren Gemeinden nicht genug Lehre bekommen. In diesem Sinn sind die Leiter verantwortlich, selbst wenn die Haltung der Gemeindeglieder tatsächlich falsch ist. Und andererseits haben wir ein allgemeines Priestertum, die Mitglieder stimmen ab, und sei es mit den Füßen. Auch sie tragen Verantwortung, für ihre eigene Haltung, und für die Gemeinde, die sie besuchen. Jedenfalls ist „keine Gemeinde ist vollkommen“ in dieser Form keine biblische Aussage.
In den Freikirchen wird von einem Christen erwartet, dass er in eine Gemeinde geht; das ist schließlich biblisch. Er kann sich im Umkreis von 50 km die Gemeinde aussuchen, die seinen Vorstellungen von Gottes Willen am besten entspricht, aber dort muss er dann hingehen, die Bedingungen akzeptieren, und mitarbeiten. Freikirchen akzeptieren es in der Regel nicht, wenn ein Christ angibt, dass er keine Gemeinde findet, die seinen Vorstellungen vom Willen Gottes gut genug entspricht. Eine Gemeinde dagegen kann aber sehr wohl ein Amt unbesetzt lassen, wenn sie niemanden findet, der ihren Vorstellungen vom Willen Gottes gut genug entspricht. Sie muss auch nicht im Umkreis von 50 km suchen, und eine Gemeinde muss insbesondere nicht die Bedingungen derjenigen akzeptieren, die sie sich für das Amt vorstellen könnten.
Manche haben auch Ämter mit Frauen besetzen, obwohl es ihrer eigenen Lehre nach mit einem Mann besetzt sein sollt, weil sie keinen geeigneten Mann gefunden haben. Oder eben nicht bereit waren, dessen Bedingungen zu akzeptieren. Den Christen dagegen kann man nicht zugestehen, dass sie statt einer Gemeinde irgendwo anders engagieren.
Natürlich haben es Gemeinden schwer, geeignete Mitarbeiter zu finden, wenn sich viele Christen, und eben auch viele überzeugte, zurückziehen. Natürlich fällt es ihnen besonders schwer, Männer zu finden, insbesondere Männer, denen man Verantwortung zumuten kann. Es ist sicher auch wahr, dass die Gemeinden gerechtfertigten Forderungen nicht entsprechen können, weil ihnen die Mitarbeiter fehlen. Damit sind sie in einem Teufelskreis: Weil ihnen Mitarbeiter fehlen können sie Dienste nicht anbieten, die sie bräuchten, damit Menschen zur Mitarbeit bereit sind. Wenn eine Gemeinde beispielsweise keine Kinderbetreuung im Gottesdienst anbieten kann, dann gehen Familien weg, und die Eltern fehlen dann als Mitarbeiter auf anderen Gebieten. Deswegen gibt es die Idee, Gemeindebau mit mehreren Familien zu machen, damit man die grundlegenden Dienste sofort anbieten kann.
Auf der anderen Seite würde es sich vielleicht durchaus lohnen, das Thema einmal von der anderen Seite zu betrachten, so, wie ich es eben für die Gemeinden getan habe:
Gibt es keine vernünftigen, christlichen, ja sogar biblischen Gründe, warum Christen, zum Teil auch Mitarbeiter in Leitungsfunktion, ja sogar Älteste die Gemeinde verlassen? Ist das immer nur Ungehorsam und persönliche Probleme?
Wäre es oft nicht ehrlicher, von Resignation zu sprechen als von Bitterkeit? Ist nicht die Unbeweglichkeit der (anderen) Gemeindeleiter ein Grund, dass Christen die Gemeinde verlassen? Und sich irgendwann auch nirgendwo mehr anschließen wollen?
Wie oft gibt es ein Gespräch zwischen den Gemeindeleitern und den Bedenkenträgern, bei dem die Gemeindeleiter nur für ihre Überzeugung werben wollen, aber nicht bereit sind, die Anliegen der Bedenkenträger auch nur anzuhören? Nicht einmal, wenn es sich um andere Älteste handelt?
Ich habe mich auch oft gefragt, wie weit die Gemeindeleiter überhaupt nachgeben könnten, ohne von ihren unbußfertigen Gemeinden abgesetzt zu werden. Das lässt für mich dann trotzdem die Frage offen, ob ich mich Gemeindeleitern unterordnen soll, die den Willen unbußfertiger Christen umsetzen, ähnlich wie Politiker den Willen gottloser Wähler umsetzen.
Wollen denn die Mitarbeiter immer nur Schlechtes, Unbiblisches? Wären die Gemeinden nicht eher besser, und biblischer, wenn man die Forderungen der aktuellen und prospektiven Mitarbeiter erfüllen würde? Es erstaunt mich immer wieder, wie viele Menschen anscheinend christlich und urteilsfähig genug sind, um in einer Gemeinde mitzuarbeiten, und da anscheinend auch das Richtige wollen. Sobald sie aber einen Missstand ansprechen, oder Forderungen stellen, sind sie auf einmal nicht mehr aber nicht christliche und vor Allem nicht urteilsfähig genug. Umgekehrt haben die Gemeinden kein Problem, Forderungen an ihre Mitarbeiter zu stellen.
Ja, ich weiß, das sind nicht die Forderungen der Gemeinde, sondern die Forderungen der Schrift. Aber hat die Schrift keine Forderungen an die Gemeinden und ihre Leiter?
Im Detail wäre da Manches anzusehen, und nicht jeder Anspruch eines Mitarbeiters ist gerechtfertigt. Aber genau das wird nicht getan; es wird eben nichts angeschaut: Wenn ein Mitarbeiter sich beschwert, dann sagt man ihm, keine Gemeinde sei vollkommen. Wenn er geht, dann ersetzt man ihn, und schiebt es auf seinen Ungehorsam, oder seine Probleme, oder wie man es nennen will. Gehen mehrere, dann versucht man, die Abwanderung zu stoppen, eine ehrliche Selbstprüfung, die man von jedem Christen erwarten würde, wenn ihm seine Mitarbeiter, Freunde oder seine Ehepartner davonlaufen, – oder er keine solchen findet – findet nicht statt.
Und so geht es in den Gemeinden immer bergab. Wobei „bergab“ nicht immer den unmittelbaren Verlust von Mitgliedern bedeutet, manchmal steigt die Mitgliederzahl, aber die Zahl der Prediger sinkt. „Bergab“ heißt für mich vor allem, dass man keine Fehler mehr erkennt, oder nur solche, die so lange in der Vergangenheit liegen, dass man nichts mehr ändern muss.
Und wenn man nach allem Selbstprüfen zu dem Schluss gekommen ist, dass man bei sich keine Fehler mehr findet, und trotzdem Mitarbeiter fehlen, dann kann man vielleicht etwas mehr Verständnis für diejenigen aufbringen, die bei sich auch keinen Fehler mehr finden, und trotzdem keine Gemeinde.
Stand: 12.07.2016